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Das Verlernen des vollen Bewegungsumfangs

Jeder kennt den Begriff Amnesie: Gedächtnisverlust. Aber Bewegungsamnesie – kann ein Pferd wirklich „vergessen“, wie man eine Bewegung ausführt? Wie weit man den Hals zur Seite oder den Fuß – Huf – nach vorne bewegen kann?

Können Muskeln vergessen?

Jede einzelne Muskelzelle kann sich an früheres Wachstum „erinnern“ und sich folglich nach Bewegungspausen entsprechend wieder aufbauen (1), Bewegungsabläufe und Range of Motion (ROM) können Muskeln sich nicht merken – folglich diese auch nicht vergessen. Bewegungsabläufe und ROM sind im Gehirn gespeichert. Werden diese Gedächtnisinhalte lange nicht genutzt – eventuell aufgrund von Verletzung oder aufgrund von Schmerz und Anspannung mit kompensierenden Bewegungen  – kann das Gehirn Inhalte als irrelevant „vergessen“ oder mit neuen, gegebenenfalls falschen Inhalten füllen.

Wie entsteht Bewegung?

Jede gewollte Bewegung beginnt in der Gehirnrinde. Die „Vorstellung“ einer Bewegung wird kombiniert mit Informationen über den Ist-Zustand des Körpers und verglichen mit dem Soll-Zustand, angereichert mit Informationen über das Wie des Bewegungsablaufs. Wenn alle Informationen zusammengetragen und verarbeitet sind, werden über Hirnstamm und Rückenmark Nervenimpulse zu den verschiedenen Muskelgruppen für die reale Ausführung gesendet. In jedem Moment der Bewegungsausführung werden Informationen zur Stellung und Position der Beine, des Kopfes, Stellung der Gelenke, und Lage des Rumpfes, Anspannung der Muskeln, und Druck der Muskeln auf das umliegende Gewebe zurück ans Gehirn gesendet.

Wie entsteht eine Bewegungsamnesie?

Eine häufige Ursache für die Entstehung von Bewegungsamnesie, oder auch Sensomotorische Amnesie genannt, ist der natürliche Reflex bei Schmerzen und Verletzungen eine Schonhaltung einzunehmen. Durch das dauerhafte Anspannen des schmerzenden Muskels verblasst die Gedächtnisspur im Gehirn für den normalen Ist-Wert des Muskels im entspannten Zustand. Das Gehirn „vergisst“ also, wie es den Muskel entspannen kann, weil es jetzt den angespannten Zustand als Normalzustand abspeichert.

Gleiches gilt für Bewegungs- und Verhaltensmuster, die zur Schmerzreduktion/-vermeidung über längere Zeit aufrechterhalten werden: Das Gehirn speichert die neuen, schmerzbedingt veränderten Bewegungsmuster ab und ersetzt damit die ursprünglichen, natürlichen Bewegungsmusters.

Wie überwindet man Bewegungsamnesie?

Der Tierarzt gibt grünes Licht: Alles verheilt und gesund. Physiotherapeuten, Ostheopathen und andere Experten haben Gelenke gelockert, Energien zum Fließen gebracht – und doch treten schon nach kurzer Zeit die alten Probleme auf.

Der Grund ist einfach: Es wird direkt am Muskel gearbeitet. Wie oben beschrieben, ist aber der Muskel nicht selbst für seinen Spannungs- bzw. Entspannungszustand verantwortlich. Für den Moment ist der Muskel selber gelockert, aber das Gehirn hat immer noch den falschen, schmerzbedingten Ist-Wert abgespeichert und wird den Muskel alsbald wieder in den angespannten Zustand zurückführen.

Darum ist bei einer Bewegungsamnesie begleitend zur manuellen und energetischen Therapie auch ein aktiver und begleitender Lernprozess nötigt (siehe Psychosomatik). Dabei werden alte Gedächtnisspuren reaktiviert und gestärkt, das Pferd spürt einen größeren Range of Motion und es gewinnt die aktive Kontrolle über seine Muskulatur zurück und einen größeren Bewegungsspielraum zurück.

Fazit

Wenn also Ihr Pferd Bewegungseinschränkungen zeigt, und keine Diagnose oder Therapie hilft, fragen Sie einen Therapeuten, der/die Erfahrung in der Behandlung von Bewegungsamnesie hat. Ihr Pferd ist weder störrisch noch dumm noch hoffnungslos krank – das Gehirn muss nur wieder die ursprünglichen Soll-Werte für seinen natürlichen Bewegungsspielraum und zur Muskelentspannung lernen und abspeichern. Dazu ist es nötig, mit dem Pferd zusammenzuarbeiten: Es muss seine Aufmerksamkeit auf spezielle Bereiche seines Körpers richten, und mithilfe von sensomotorischem Feedback bei langsamen, angeleiteten Bewegungen selbst die Anspannung in den Muskeln lösen und alle feinen Abstufungen einer Bewegung ausführen.

Literatur

Seaborne et al. 2018. Human Skeletal Muscle Possesses an Epigenetic Memory of Hypertrophy, Scientific Report 8:1898 8 | DOI:10.1038/s41598-018-20287-3

Schmidt et al. 2019. Neuroanatomy of the equine brain as revealed by high-field (3Tesla) magnetic- resonance-imaging. PLoS ONE 14(4): e0213814 | https://doi.org/10.1371/journal.pone.0213814

Siehe auch Equine Hanna Somatics®